Der Unkenntlichkeit der diagnostischen Macht kommt vor allem die Konkurrenz der Untertanen zu Hilfe. Da ein jeder sich umso zugehöriger fühlen kann, je weniger zugehörig andere sind, bestehen alle auf der striktesten Einhaltung der Normalitätsstandards, dulden keine Ermäßigung und fordern die Ahndung von Abweichungen. In der Konkurrenz um Konformität verteidigen die darin Befangenen nach Kräften die eigenen Fesseln. Wer so die Normalität überwachen hilft, gefällt sich als Anteilseigner der Macht. Das garantiert den Mächtigen ihren guten Schlaf. Vor hässlichen Übertreibungen der Klienten müssen sie sich allerdings hüten, um ihr Inkognito zu wahren und ihre Eleganz zu erhalten. Im Falle der Besitzmacht ist die Versorgung eine Entschädigung für Beraubung. Im Falle der diagnostischen Macht ist die Versorgung selbst die Machtausübung. Das macht sie nahezu unauffindbar.
aus Marianne Gronemeyer, Die Macht der Bedürfnisse, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002 |